Ich bin im Erzgebirge unmittelbar an der Landesgrenze aufgewachsen. Zwei Fakten prägten meine Kindheit und Jugend besonders.
- die Staatsgrenze: Trotz der Sprachregelung von den "sozialistischen Bruderländern" DDR (Ostdeutschland) und ČSSR (Tschechoslowakei) war die Grenze während meiner Kindheit sozusagen eine hohe Hürde. Die nächsten offiziellen Übergänge befanden sich 50 km ostwärts und 60 km westwärts. Eine Fahrt zu den etwa zwölf Kilometer entfernt auf böhmischer Seite wohnenden Großeltern gestaltete sich mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Tagesreise, anfangs nahmen wir sogar die Bahn von Dresden nach Děčín. Ständig hatte ich den von einer Pultscholle gebildeten Gebirgskamm vor Augen, der nur umständlich erreichbar war. Man hätte durch einen Grenzfluss waten können, aber die Strafen waren angeblich ziemlich hoch.
- das Waldsterben: Auf diesem Gebirgskamm spielte sich einer der bis dahin deutlichsten Waldsterbensprozesse überhaupt ab, verursacht durch Emissionen der nordböhmische Braunkohlechemie. Was ich am Anfang meiner Schulzeit als Märchenwald mit kniehohen Heidelbeerbüschen erlebte, sah am Ende wie nach einem Atomschlag aus. Rund um das 300 Meter tiefer gelegene Häuschen meiner Eltern war die Katastrophe nicht so ausgeprägt, aber ich blickte täglich auf den sterbenden Kamm.
Schon damals verspürte ich Impulse zur literarische Fixierung meiner Erfahrungen. Nachhaltige Schriften entstanden jedoch nicht.
Stattdessen hier ein paar persönliche Buchempfehlungen für Leute, die sich für das Erzgebirge interessieren:
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Es gibt kein definiertes Hocherzgebirgisch, teilweise konnte ich zu meiner Schulzeit an Sprachnuancen sogar den genauen Herkunftsort eines Sprechers bestimmen. Erzgebirgisch klingt nicht so weich wie Obersächsisch, beide Dialekte vermischen sich jedoch zunehmend. Als Quasistandard für den erzgebirgischen Dialekt werden die Lieder Anton Günthers angesehen, der unbestritten als wichtigster Mundartdichter gilt.
- Der Förster Max Schreyer (1845-1922) textete vermutlich 1887 mit "Dar Vugelbeerbaam" den größten Hit des Erzgebirges.
- Anton Günther (Toler-Hans-Tonl, 1876-1937) lebte größtenteils in Gottesgab, heute Boží Dar. Es ist das höchstgelegene Städtchen des Gebirges, sein Grab kann dort noch immer besucht werden. Günther gilt als Erfinder der Liedpostkarten, über die viele seiner Lieder populär wurden. Es gibt von ihm selbst eingespielte historische Tonaufnahmen, die überraschend frische Interpretationen mehr im Charakter heutiger Liedermacher statt schmalziger Schunkelei dokumentieren. Am bekanntesten: "Da Uf´nbank", "Feierohmd", "'s Annl mit´n Kannl", "Wu de Wälder haamlich rauschen", "Schneeschuhfahrermarsch".
- Max Wenzel (1879-1946) schrieb hauptsächlich humorvolle Prosa.
- Stephan Dietrich (Saafnlob, 1898-1969) war ein vielseitiger Mundartdichter aus Eibenstock.
- Erwähnt werden soll noch das in Rothenthal handelnde Theaterstück "Kater Lampe" von Emil Rosenow. Der SPD-Reichstagsabgeordnete lebte zeitweise in Chemnitz und fühlte sich dort in den erzgebirgischen Dialekt ein. 1902 fand die Uraufführung in Breslau statt.
Bis heute die Referenz zum Titelthema
Manfred Bachmann (Text) / Hans Reichelt (Zeichnungen) 1984, mehrere Nachauflagen, Verlag der Kunst Dresden
Opulenter Klassiker über die Seiffener Werkstätten aus der DDR-Zeit, 262 Seiten, mit Schuber über 1600 Gramm schwer.