Geheimziele im Osten I (Verträglich Reisen 2005/06)
Regine Gwinner, Tourismusexpertin der Fairkehr (Magazin für Umwelt, Verkehr, Freizeit und Reisen), Heft für 2006 (2005 erschienen)
Fotos: Basilius-Kathedrale in Moskau, typische Fischerboote irgendwo zwischen Danzig und Stettin, Besucher beim Rockfestival "Haltestelle Woodstock" ("Przystanek Woodstock") in Kostrzyn, Kaschubien, Abendstimmung über der Klosterinsel im Wigrysee, Riga, Wasserfall Jägala
Anhang: empfehlenswerte Reisehandbücher und Reiseveranstalter
Acht Geheimziele im Osten
Keine europäische Reiseregion verändert sich so schnell und grundlegend wie der Osten. Viele ehemalige Sowjetrepubliken haben sich ihre Traditionen zurückerobert. Acht Ost-Länder werden seit einem Jahr weitgehend reibungslos in die Europäische Union integriert. Aber trotz zunehmender Nähe und Demokratisierung bleibt der Osten den meisten Reisenden fern. Vorurteile, Sprachbarrieren und fehlende Kenntnis der Attraktionen und Sehenswürdigkeiten hindern viele Urlauber daran, Polen statt Dänemark oder die Ukraine statt der Schweiz anzusteuern. Nur ganz langsam tastet sich der Tourismus gen Osten vor, eine Chance für alle die, die nicht gerne mit dem Strom schwimmen. Frieder Monzer, Reiseveranstalter und Osteuropa-Fan, erinnert sich an seinen ersten längeren Urlaub in Polen und verrät seine aktuellen Geheimtipps.
Per Anhalter durch Polen (Frieders Bericht)
Vor einigen Monaten spaltete ein populärer deutscher TV-Unterhalter seine Konsumenten mit einem überdurchschnittlich plumpen Gag über die Polen, ähnliche Witze erzählten sich DDR-Bürger aber schon zu realsozialistischen Zeiten. Fast wundere ich mich jetzt darüber, dass meine fürsorglichen Eltern mich damals als Teenager bedenkenlos allein zu einer Autostop-Tour durch ein Land mit solch schlechten Ruf ziehen ließen. Abgesehen davon ist es natürlich sowieso Unfug, die Menschen eines Volkes oder gar die Slawen pauschal über einen Kamm scheren zu wollen. Bei der Frage nach preisgünstigen Quartieren schloss ich unterwegs Bekanntschaft mit einem wehrlosen älteren Ehepaar, die beiden überließen mir zur Schlafenszeit spontan ihr schickstes Zimmer und verzogen sich in einen entlegeneren Winkel ihres Plattenbau-Domizils. Da lag ich nun in einen blitzsauberen Komfortbett in diesem ach-so-schmuddeligem Land, aufs aufwendigste umsorgt und bekocht von ach-so-arbeitsscheuen Leuten, wahrscheinlich hätte ich unbemerkt diesem ach-so-kriminellen Volk eine Wohnung ausräumen können. Einige Wochen später läutete die Gewerkschaft Solidarność das Ende des Ostblocks ein ...
Die Polizeistatistik spricht eine deutliche Sprache. In der Osthälfte Europas geht es friedlicher zu als in vielen beliebten Urlaubsgebieten Spaniens oder Italiens. Die tonangebenden Medien der wiedervereinigten Germanen präsentierten Europas Osten jedoch bis zur Jahrtausendwende hauptsächlich als Heimat von Zigarettenschmugglern oder Menschenhändlern. "Russenkrähen vertreiben deutsche Singvögel!", titelte die Bild-Zeitung und versuchte klarzumachen, daß die Gefahr immer noch aus dem Osten kommt.
Ganz so fern sind die Länder im Osten heute nicht mehr. Inzwischen könnte man einige Radwege Masurens und einige Strände Bulgariens als überlaufen bezeichnen. Aber noch sind viele Bereiche Osteuropas noch nicht vom Tourismus entdeckt. Im letzten Jahr besuchte ich meine damaligen Gastgeber in der gleichen Wohnung wie 25 Jahre zuvor. Polen gehört inzwischen zur Europäischen Union. Für den Grenzübertritt ist nur noch der Personalausweis nötig. Auch für meine Weiterreise in die Ukraine war kein Visum mehr erforderlich. Ursprünglich hatte die Ukraine anlässlich des Eurovision Song Contests 2005 in Kiew eine viermonatige Visumsfreiheit ausgerufen. Diese Regelung wurde unbefristet verlängert.
Bahnfahrkarten
Problematisch bleibt die Beschaffung von Bahnfahrkarten für das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, denn auf einigen Bahnstrecken verkehren fast nur reservierungspflichtige Schlafwagenzüge. Wer mit einem solchen Zug tagsüber eine halbe Stunde lang bis zum nächsten Bahnhof fahren möchte, braucht eine Bettkarte oder gute Trinkgeldkenntnisse. Jeder Waggon hat seinen eigenen Schaffner, der an jedem Bahnhof die einzige unverschlossene Tür seines Waggons bewacht. Unter deutschen Reisebüros können nur sehr wenige Spezialisten entsprechende Reservierungswünsche erfüllen, die meisten werden solche Anfragen exotischer finden als einen Flug von Papua-Neuguinea nach Feuerland. Ebenso schwierig ist es jedoch, die Reservierungen im ehemaligen Sowjetgebiet wenige Tage vor der Fahrt zu bekommen.
Gastfreundschaft
Ob man bei einer Reise spontan engere Kontakte zu Eingeborenen gleicher Wellenlänge knüpfen kann, läßt sich nicht vorausplanen. Die größten Chancen hat, wer sich allein durch touristisch weniger erschlossene Gebiete bewegt. Wenn es erst mal funkt, wird man innerhalb einer Großfamilie schnell von einer gedeckten Tafel an die nächste weitergereicht. Offen gesagt, Abstinenzler und Vegatarier bekommen spätestens dann Probleme. Wer sich freihalten läßt, sollte sich unbedingt mit einer ernst gemeinten Gegeneinladung erkenntlich zeigen. Nachhelfen kann man einer Kontaktanbahnung bereits von zu Hause aus, indem man sich beispielsweise bei Schulpartnerschaften oder Kulturaustauschprogrammen engagiert. Oder man wählt einen derjenigen Veranstalter, die sehr persönliche Urlaubsprogramme in kleinen Gruppen von höchstens 20 Personen stricken. Dabei erhält man auch Einblicke in das Alltagsleben, ohne gleich in Familienstrukturen integriert zu werden.
1. Ural
Spätestens mit der Hollywood-Verfilmung von "Doktor Schiwago" wusste jeder, dass hinter dem Ural die Welt zu Ende ist. Das Gebirge ist über 2000 km lang, es gilt als Grenze zwischen Europa und Asien. Endlose Bergwälder, unverbaute Flüsse. Neue Maßstäbe einer sachlichen Osteuropa-Reportage setzte 2003 eine TV-Dokumentation über das Baschkirendorf Irgisly, als Filmmusik wurden Balladen der Rockgruppe Alisa verwendet. In der dünn besiedelten Landschaft leben die Leute ärmlich, verstehen aber zu teilen und zu feiern. Da sowohl Bauholz als auch Bauland sehr günstig zu bekommen sind, bewohnt immerhin fast jeder ein eigenes Blockhaus.
2. Die Wolga bis Kasan
Die Wolga ist Europas längster und stärkster Fluss. Ihr artenreiches Delta kann aufgrund der fehlenden touristischen Infrastruktur nur Hardcore-Biologen empfohlen werden. Die untere Hälfte ab der alten Tatarenhauptstadt Kasan besteht aus riesigen Stauseen. Bei Schiffsfahrten kann man die Landschaft dort oft nur erahnen. Umso interessanter ist die Wolga bis Kasan. In diesem Abschnitt liegen auch sehenswerte alte Handelsstädte wie Jaroslawl und Kostroma.
3. Estlands Inselwelt
Die Inseln Saaremaa und Hiiumaa gehören zu den größten in der Ostsee. Sie liegen abseits frequentierter Verkehrswege und sind deswegen kaum bekannt. Ruhe suchende Radler und Paddler werden in dieser kräuterreichen Küsten- und Heidelandschaft voll auf ihre Kosten kommen.
4. Großpolen
Der Kulturkreis der Slawen fängt nach einer Stunde Bahnfahrt hinter der deutschen Hauptstadt an. Bereits nach zwei weiteren Stunden ist man im Kerngebiet des ersten Staatsgebildes der Polen. Im Jahre 1024 wurde Bolesl`aw I. Chobry (der Tapfere) in Gnesen (Gniezno) zum ersten König gekrönt. Sein damaliger Machtbereich heißt bis heute Großpolen (Wielkopolska) und bietet viele historische Sehenswürdigkeiten. In Posen (Poznań) findet man das Schloß des letzten deutschen Kaisers Friedrich Wilhelm II. Sowie einen pittoresken Altmarkt. Dort stehen unter anderem eins der schönsten Renaissance-Rathäuser der Welt und ein Musikmuseum mit vielen Chopin-Exponaten. Überhaupt bietet Großpolen ein reichhaltiges Musikleben. In der grünen Umgebung laden die Schlösser von Rogalin und Konik zu Ausflügen ein. Der heutige Verwaltungsbezirk Großpolen ist geringfügig kleiner als die gleichnamige historische Landschaft. Von Berlin aus gesehen beginnt er mit der Netzer Heide (Puszcza Notecka). Die Infrastruktur in diesem zweitgrößten zusammenhängendem Waldgebiet des Landes verbessert sich von Jahr zu Jahr. Großpolen eignet sich besonders für einen Kurzurlaub und natürlich als Zwischenstation auf dem Weg nach Masuren. Nächste Zwischenstation könnte die alte Hansestadt Thorn (Toruń) sein. Manche zählen sie zu den schönsten Städten der Welt. Frisch aufgepeppt wird das Renaissance-Flair in Kopernikus´ Geburtsstadt unter anderem von Kulturinitiativen aus dem Umfeld der Universität.
5. Südostpolen
Der Südostzipfel Polens bietet eine ungewöhnlich attraktive Mischung von Kultur und Natur. Die Ostbeskiden (Bieszczady) sind ein einsames Mittelgebirge mit urigen Bergwäldern und wunderschönen Rundblicken. Dort entspringt der romantische Fluß San. Am Fuße der Berge liegen hübsche Kleinstädte mit malerischen Marktplätzen. Günstigster Ausgangspunkte ist der Bahnhof von Sanok. Unterwegs findet man zahlreiche Burgen und Holzkirchen. Nahezu nahtlos gehen die Ostbekiden im Grenzbereich zwischen Polen und der Ukraine in die Waldkarpaten über. Die Infrastruktur hat sich inbesondere am Nordhang in den letzten Jahren verbessert. Nach Lemberg (Lviv) ist es ebenfalls nicht mehr weit.
6. Die Theiß in Ungarn
Als im Jahre 2000 giftige Bergbauabfälle aus Rumänien zum größten Tiersterben in der Theiß führten, waren nicht nur Fischer und Naturschützer in Ungarn geschockt. Welche Selbstheilungmechanismen danach abliefen, überraschte Anwohner und Wissenschaftler gleichermaßen. Jetzt ist das Wasser weit sauberer als vor dem Tiersterben, einige seit Jahrzehnten fast verschwundene Arten breiten sich wieder aus. Ungarns zweitgrößer Fluß berührt das berühmte Weinbaugebiet Tokaj, fließt durch die legendäre Steppenlandschaft Pußta, durch moderne Kurstädtchen und schließlich durch Szeged, bekannt für Gulasch und Fischsuppe. Wie wärs mit einer Kanutour flussabwärts?
7. Moldova
Vorurteile über den Osten Europas sind auf dem Rückzug, konzentrieren sich aber derzeit auf die ehemalige Sowjetrepublik Moldawien. "Molwanien, Land des schadhaften Lächelns" heißt nicht zufällig ein Reisebuch über ein fiktives Land, das alle Klischees auf die Spitze treibt. Das reale Land Moldova findet unter seinen Touristen erstaunlich viele Wiederholungstäter, welche immer wieder über die geringe Korrelation zwischen Bruttosozialprodukt und Lebensfreude verblüfft sind. Viele Sehenswürdigkeiten befinden sich im Umfeld der Hauptstadt, die über eine akzeptable Infrastruktur verfügt. Daker hinterließen nunmehr 2400 Jahre alte Spuren, vor 800 Jahren dirigierte Dschingis Khan von hier aus einige Feldzüge. Außerdem besitzt Moldova 20 Millionen Jahre alte Korallenriffe, Nussbaumallen, urige Klöster in einsamen Gegenden, nahezu orientalische Basare, den weltgrößten Weinkeller und unzählige Weinerntefeste, ein von der Ethnojazzband Trigon organisiertes internationales Musikfestival, ...
8. Bulgariens Bergwelt
Unter DDR-Wanderern war Bulgariens Bergwelt zeitweise recht populär, derzeit sind deutsche Touristen dort aber nur selten anzutreffen. Dabei überragen die kleinen Bergmassive Rila und Pirin sogar die Karpaten, grandiose Fernblicke bis zum Olymp sind möglich. Man trifft bis in die höchsten Lagen auf duftende Wiesen, viele Quellen und malerische Seen. Auch im Balkangebirge gibt es schöne Wanderwege, vom Schipka-Pass ist es übrigens nicht weit in die alte Hauptstadt Veliko Tarnowo. Im Nachbarland Makedonien sind kleine Gebirge mit ähnlichem Charakter zu finden. Makedonien spielte eine zentrale Rolle bei der Christianisierung der Slawen und beherbergt faszinierende Kulturdenkmale aus dieser Zeit.